Der Blitzen-Benz ist ein Koloss des Motorsports. Der Rekordwagen, offiziell Benz 200 PS genannt, ist gezielt gebaut für den Zweck, Geschwindigkeits-Bestmarken einzufahren und damit Werbung für die Qualitätsprodukte aus Mannheim zu machen. Herzstück ist ein gewaltiger Motor, der aus 21,5 Liter Hubraum eine Leistung von 147 kW entwickelt. In diese Maschine setzt Victor Hémery sich am 8. November 1909. Die englische Brooklandsbahn ist gerade zwei Jahre alt und die einzige Strecke in Europa, um wirklich schnell zu rollen. Zunächst fährt er sich ein, tastet sich aber zugleich an die Geschwindigkeitsgrenze heran: Eindeutiges Ziel ist es, an diesem Tag erstmals schneller als 200 km/h unterwegs zu sein. Hémery ist ein Pionier auf dem Automobil, das zur damaligen Zeit gerade den Kinderschuhen entwächst. Nach einer Ausbildung als Mechaniker stößt er 1895 zum Unternehmen Léon Bollée und ist dort bis 1900 als Techniker, aber auch als Fahrer tätig. Er wechselt zu Darracq, wo er als Chef der Versuchsabteilung unter anderem mehrere Rennwagen für den Gordon-Bennet-Cup – die Vorläufer-Veranstaltung der späteren Grand-Prix-Rennen – aufbaut und abstimmt. Oft tritt Hémery auch selbst bei Rennen an. 1905 baut Darracq ein Rekordauto, mit dem er prompt auch einen Bestwert für die Marke holt: 176,5 km/h erzielt Hémery. Ohnehin gilt 1905 mit diversen Triumphen als das erfolgreichste Jahr seiner Karriere. Auf Darracq gewinnt er das Ardennenrennen in Bastogne/Belgien sowie den Vanderbilt Cup auf Long Island/USA. Benz wird auf den Franzosen aufmerksam, der 1907 dann als Werksfahrer zum Mannheimer Unternehmen stößt. Im gleichen Jahr nimmt er an verschiedenen Veranstaltungen teil; den Coupe d’Evreux gewinnt er, alle anderen beendet er als Zweiter. 1908 gewinnt er das Rennen Petersburg – Moskau (Eigenwerbung von Benz: „Das schärfste Rennen im Automobilsport“), welches „auf zum Teil verwahrlosten Straßen über 686 Kilometer führte, mit seinem Benz-Wagen des Großen Preises, in der erstaunlichen Zeit von 8 Stunden 30 Minuten, was eine mittlere Geschwindigkeit von mehr als 80 Kilometer in der Stunde ergibt“, wie die „Automobil-Welt“ schreibt. Das sind die Eckwerte, die zu Beginn des Jahrhunderts aus einem Rennfahrer einen Helden machen. Hémery unterstreicht diesen Ruf im gleichen Jahr beim Grand Prix von Frankreich, wo er hinter Christian Lautenschlager auf Mercedes und vor René Hanriot, ebenfalls auf Benz, ins Ziel kommt. Für ihn unter erschwerten Umständen: In der siebten Runde, nach fünf Stunden zermürbender Fahrt, zertrümmert ein Stein sein linkes Brillenglas und verletzt ihn am Auge. Er fährt bis zu den Boxen, wo ein Arzt ihm den Splitter entfernt, und setzt unter Sehschwierigkeiten das Rennen fort. Auch bei anderen Veranstaltungen landet er, wiederum, stets auf dem zweiten Platz, oftmals mit nur einer Sekunde Rückstand auf den Sieger. Das macht ein wenig die Tragik seiner Karriere aus: Hémery fährt zwar stets ganz vorn mit, doch gewinnt er vergleichsweise selten. Seinem Ruhm tut das keinen Abbruch, er ist einer der schillerndsten Fahrer in der Zeit von 1900 bis 1914. Vielleicht macht die Faszination für seine Person auch sein mitunter impulsives Verhalten aus: Mehr als einmal wird er disqualifiziert, weil er bei Rennen Funktionäre und Kollegen wüst beschimpft. Nach seiner Zeit bei Benz fährt er noch auf verschiedenen Marken, mit einer ähnlich durchwachsenen Erfolgsbilanz. Der Erste Weltkrieg setzt seiner Karriere ein Ende. Zwar ist Hémery auch danach noch aktiv am Volant, doch gelingt es ihm nicht mehr, an seine früheren Erfolge anzuknüpfen. Am 8. September 1950 begeht Victor Hémery, vollkommen verarmt lebend, im Alter von 74 Jahren in Le Mans/Frankreich Selbstmord, wenige Tage später folgt ihm seine verzweifelte Ehefrau nach. 1951 wird Hémery posthum der Titel des US-Meisters für 1905 zugesprochen.
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