Nur Sekundenbruchteile trennen Juan Manuel Fangio von seinem Teamkollegen Karl Kling, als der Argentinier am 4. Juli 1954 beim Grand Prix de l’Automobile Club de France (ACF) auf dem Rundkurs von Reims die Ziellinie als Sieger überquert: Fangio und Kling erzielen einen glänzenden Doppelsieg für den völlig neu entwickelten Mercedes-Benz W 196 R. Auf Platz drei folgt Robert Manzon (Ferrari) nach 61 Runden mit mehr als einer Runde Abstand. Der Doppelsieg demonstriert die Überlegenheit des nach den Vorgaben der neuen 2,5-Liter-Formel konstruierten Silberpfeils, der auf der schnellen Strecke in der Champagne seine Premiere feiert. Es ist ein grandioser Erfolg, mit dem sich die Stuttgarter Marke nach 15 Jahren im Grand-Prix-Sport zurückmeldet – und es ist ein magischer Moment mit historischer Reichweite. Denn exakt 40 Jahre zuvor erzielt Mercedes am 4. Juli 1914 den legendären Dreifachsieg beim Grand Prix de l’ACF in Lyon. Als „Wunder von Reims“ wird dieses Rennen später gewürdigt, in Anspielung auf den Weltmeistertitel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, die am 4. Juli 1954 das „Wunder von Bern“ perfekt macht. Doch der Sieg im Grand Prix de l’ACF ist kein einzelner Erfolg, sondern Auftakt einer ganzen Ära im Motorport: Sowohl 1954 als auch 1955 wird Mercedes-Benz mit dem W 196 R den Grand-Prix-Sport der Formel 1 dominieren. Juan Manuel Fangio, der in beiden Jahren die Fahrerweltmeisterschaft der Formel 1 für sich entscheidet, gewinnt 1954 auf Mercedes-Benz W 196 R den Grand Prix von Frankreich sowie die Großen Preise von Deutschland (Nürburgring), der Schweiz (Bremgarten) und Italien (Monza). Noch bevor Mercedes-Benz mit dem W 196 R in der Formel 1 antritt, entscheidet der Weltmeister von 1951 zu Beginn der Saison 1954 bereits die Grands Prix von Argentinien (Buenos Aires) und Belgien (Spa-Francorchamps) auf Maserati für sich. Gelungene Rückkehr in den Grand-Prix-Sport Nach Kriegsende 1945 stehen für die damalige Daimler-Benz AG vor allem der Aufbau zerstörter Werke und die Wiederaufnahme der Produktion von Nutzfahrzeugen sowie Personenwagen an erster Stelle. Vor diesem Hintergrund hat ein Wiedereinstieg in den Rennsport zunächst eine geringe Priorität. Die ehemaligen Werksfahrer, Mechaniker und Ingenieure der Rennabteilung reparieren deshalb in den ersten Nachkriegsjahren herkömmliche Personenwagen – eine Aufgabe, die in der Nachkriegszeit viel Flexibilität verlangt, die die Motorsport-Mitarbeiter auch durch ihre Arbeit an den Boxen erworben haben. Ein erster Ausflug in den Motorsport der Nachkriegszeit ist im September 1950 die Teilnahme von Karl Kling auf Mercedes-Benz 170 S an der für Sport- und Tourenwagen ausgeschriebenen ADAC-Sechsstundenfahrt auf dem Nürburgring. Dann startet Mercedes-Benz 1951 mit dem Grand-Prix-Rennwagen W 154 aus den 1930er-Jahren bei zwei Rennen in Argentinien. Wirklich erfolgreich ist jedoch erst der 1952 vorgestellte 300 SL Rennsportwagen (W 194), mit dem Mercedes-Benz unter anderem die 24 Stunden von Le Mans und die Carrera Panamericana gewinnt. Die Erfolge des 300 SL beflügeln die 1953 getroffene Entscheidung, ab der Saison 1954 wieder in den Grand-Prix-Sport einzusteigen und dafür einen völlig neuen Rennwagen zu konstruieren. Der W 196 R entspricht dem ab 1954 gültigen Reglement der Formel 1. Er wird von einem Saugmotor mit 2,5 Liter Hubraum angetrieben, der schon bei niedrigen Touren viel Leistung und ein hohes Drehmoment bietet. Der Achtzylinder-Reihenmotor M 196 R besteht aus zwei Vierzylinderblöcken mit zentralem Kraftabtrieb. Er wird nach rechts geneigt eingebaut, um den Schwerpunkt des Autos zu senken. Zunächst erhält er vier Weber-Doppelvergaser. Doch der Einsatz einer mechanischen Direkteinspritzung von Bosch, die für eine höhere Leistung und bessere Treibstoffökonomie sorgt, steht bereits fest – sie ist kurz vor dem ersten Rennen in Reims einsatzbereit.
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