Am grossen Fahrzeugaufgebot der DMG kann die Bedeutung der Targa Florio zu jener Zeit abgelesen werden: Sie ist ein sehr schwieriges Straßenrennen mit internationaler Geltung. Die DMG schickt sehr unterschiedliche Fahrzeuge ins Rennen, bewährte und neue - sie will die Targa Florio auf jeden Fall gewinnen. Da ist es fast eine Ironie der Geschichte, dass nicht sie selbst den Gesamtsieger stellt, sondern ein Privatfahrer auf seinem Mercedes die begehrte Trophäe erhält. Das Fahrzeug des Siegers Graf Masetti entspricht in den wesentlichen Punkten dem Grand-Prix-Rennwagen, mit dem der DMG-Werkspilot Christian Lautenschlager vor dem Ersten Weltkrieg am 4. Juli 1914 den Grossen Preis von Frankreich in Lyon gewonnen hatte. Der Motor ist eine wegweisende Neukonstruktion: Aus 4,5 Liter Hubraum entwickelt er eine Leistung von 105 PS bei 3100/min, die Höchstleistung beträgt 106 PS. Die Konstruktion gibt eine oben liegende Nockenwelle sowie für die bessere Beatmung zwei Einlass- und zwei Auslassventile vor - der erste Mercedes-Motor mit Vierventiltechnik. Die Kurbelwelle ist fünffach gelagert und aus Spezialstahl hergestellt, um einen zuverlässigen Dauerbetrieb zu ermöglichen. Ausgelegt ist der Motor auf eine Drehzahl von 3500/min, was für damalige Verhältnisse sensationell ist, quittieren andere Triebwerke doch meist bei rund 2200/min ihren Dienst. Auch das Chassis des Rennwagens bietet Neuerungen, unter anderem einen Kardan- anstelle eines Kettenantriebs. Das Fahrzeug wiegt rund 1080 Kilogramm und erreicht eine Höchstgeschwindigkeit von 180 km/h. Die italienischen Fans machen es ausländischen Rennfahrzeugen beim Strassenrennen Targa Florio nicht gerade leicht. Immer wieder behindern sie diese, um den einheimischen Marken bessere Chancen zu geben. Graf Masetti bedient sich deshalb eines Tricks, um ungehindert fahren zu können: Er lässt seinen Mercedes in der traditionellen italienischen Rennfarbe Rot lackieren, so dass sich ihm niemand in den Weg stellt. Diese Taktik ist erfolgreich und führt die DMG zwei Jahre später erneut zum Sieg bei der Targa Florio. Sechs Fahrzeuge schickt die DMG 1922 in Sizilien auf die Strecke. Neben zwei weiteren Grand-Prix-Rennwagen von 1914 holt Max Sailer den Titel der Serienwagen auf einem Typ 28/95 PS, der eigens für das Rennen mit einem Kompressor ausgerüstet ist. Der zweite 28/95 PS kommt ohne Kompressor zum Einsatz. In der Kategorie bis 1,5 Liter Hubraum nehmen zwei völlig neu konstruierte Mercedes 1,5-Liter-Kompressorwagen vom Typ 6/40/65 PS teil, die eng verwandt sind mit den Personenwagen 6/25/40 PS und 10/40/65 PS. Die Motorleistung des Sportwagens beträgt 40 PS, mit zugeschaltetem Kompressor sind es 65 PS. Der Vierzylindermotor hat zwei durch eine Königswelle angetriebene oben liegende Nockenwellen, zwei Einlass- und zwei Auslassventile je Brennraum und erstmals in der Zylindermitte angeordnete Zündkerzen. Die Höchstgeschwindigkeit des rund 1400 Kilogramm wiegenden Fahrzeugs beträgt 135 km/h. Später gelangt ein solcher Motor auf den Prüfstand und erreicht sogar eine Effektivleistung von 54 PS bei 4000/min, die der Kompressor auf 72 PS erhöht; bei der Höchstdrehzahl von 4500/min sind es sogar 79 PS. Die Aufladung sorgt also bei einem begrenzten Hubraum für einen echten Vorteil. Sie hatte sich zuvor bei Flugmotoren bewährt, um dort den Leistungsverlust in grosser Höhe wegen des dort geringeren Sauerstoffgehalts zu kompensieren. Der eine Fahrer des neuen 1,5-Liter-Kompressorwagens, Paul Scheef, erreicht bei der Targa Florio 1922 in seiner Klasse den dritten Rang, während der Italiener Fernando Minoia am Volant des zweiten Rennwagens aufgeben muss. Dennoch: Die Mercedes Fahrzeuge haben sich unter härtesten Bedingungen bewährt und gleichzeitig das Potenzial der Kompressortechnik gezeigt.
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