1. Mai 1955, Brescia in Italien. Es ist 7.22 Uhr. Ein silberner Rennsportwagen erhält das Startzeichen und schießt die Rampe herab: Stirling Moss und sein Beifahrer Denis Jenkinson sind im Mercedes-Benz 300 SLR (W 196 S) zu einem der damals wichtigsten und härtesten Straßenrennen der Welt gestartet – der Mille Miglia. 1.000 Meilen durch Italien liegen vor ihnen, umgerechnet 1.597 Kilometer. Gegner sind nicht nur die 520 anderen Fahrzeuge, sondern vor allem eine kurvenreiche Strecke auf öffentlichen Straßen und die Uhr mit stetig wanderndem Sekundenzeiger. Denn am Ende zählt allein die Zeit, die man für die 1.000 Meilen benötigt.
Nach 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden kommt in Brescia der silberne 300 SLR von Stirling Moss mit der rot aufgemalten „722“ ins Ziel. Die Zahl steht für die Startzeit, wie es bei der Mille Miglia üblich ist. Es ist eine Sensation: Moss und Jenkinson haben eine neue Rekordzeit für die „Tausend Meilen“ aufgestellt, im Durchschnitt sind sie an diesem Tag unglaubliche 157,65 km/h gefahren. Diese Zeit wird nie mehr bei diesem Straßenrennen unterboten werden.
„Nur Mercedes-Benz konnte so ein Auto bauen“
„Es war mein größter Sieg“, sagt Moss später. „Kein anderes Fahrzeug der Welt hätte uns die Möglichkeit gegeben, diese enorme Geschwindigkeit zu erreichen. Nur Mercedes-Benz konnte so ein Auto bauen.“ Angst? Ja, die habe er vor dem Rennen durchaus gehabt, weil er gewusst habe, wie schnell er fahren musste, um zu gewinnen, ohne immer den ganz exakten Verlauf der Straße zu kennen. Deshalb habe es einen so verlässlichen Beifahrer wie Denis Jenkinson mit dessen Hinweisen aus dem auf einer Papierrolle aufgezeichneten Roadbook gebraucht.
Erst wenige Jahre zuvor, 1948 im Alter von 19 Jahren, fährt Moss sein erstes Rennen und belegt den vierten Platz. Er hat die Motorsportleidenschaft in seinen Genen: Sein Vater Alfred Moss, eigentlich Zahnarzt, und seine Mutter Aileen sind schon in den 1920er- und 1930er-Jahren im Motorsport aktiv, und seine Schwester Pat nimmt in den 1950er- und 1960er-Jahren mit Erfolg an Rallyes und Sportwagenrennen teil. Gleich bei seinem zweiten Wettbewerb in Brighton steht Stirling Moss auf dem Siegertreppchen ganz oben. Insgesamt bestreitet er in jenem ersten Rennjahr 15 Wettbewerbe und beendet zwölf davon als Sieger.
Es ist der Blitzstart zu einer internationalen Karriere, die er nach mehreren Zwischenstationen 1955 erfolgreich in der Werksmannschaft von Mercedes-Benz fortsetzt. In seinem Vertrag stehen alle wichtigen Veranstaltungen der Formel 1 und der Sportwagen-Weltmeisterschaft, er fährt sie mit dem Grand-Prix-Rennwagen W 196 R und dem Rennsportwagen 300 SLR (W 196 S). Er beendet die Saison hinter Juan Manuel Fangio als Formel-1-Vizeweltmeister. Und er erzielt die entscheidenden Punkte für den Gewinn der Sportwagen-Weltmeisterschaft, die Mercedes-Benz 1955 neben der Formel-1-Weltmeisterschaft gewinnt. Seine Erfolge im Jahr 1955:
Mille Miglia: Platz 1 Internationales Eifelrennen auf dem Nürburgring: Platz 2 Grand Prix von England: Platz 1 und zugleich sein erster Formel-1-Sieg Grand Prix von Schweden: Platz 2 Grand Prix von Belgien: Platz 2 Grand Prix der Niederlande: Platz 2 Tourist Trophy in Dundrod/Nordirland: Platz 1 Targa Florio: Platz 1 Moss hat einen immensen Siegeswillen. Ihn habe immer ein Gedanke getrieben, sagt er: „Heute ist Renntag, heute riskiere ich mein Leben.“ Dem Fahrzeug fordert er stets alles ab – manches Mal kommt er mit einem ramponierten Auto ins Ziel, aber eben als Sieger.
Als Mercedes-Benz sich nach der überaus erfolgreichen Saison 1955 aus dem Motorsport zurückzieht, stehen Moss die Cockpits aller bedeutenden Marken offen. In den Folgejahren fährt er verschiedene Fahrzeuge, beispielsweise von Vanwall, Cooper, Porsche, Aston Martin, Ferrari, Lotus und B.R.M. Jede Saison zeigt erneut: Er ist ein Fahrer von Weltklasseformat.
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