Die Räume vor uns sind groß, die Wände entweder weiß verputzt oder im gepflegten Rohzustand. Aus jeder Ecke spricht der Neuanfang, auferstanden aus Ruinen.
Auf dieser Bühne lernen wir Jochen Tüting kennen: 44 Jahre alt, groß, schlank, fast blond, offener Blick und guter Zwirn – ganz der erfolgreiche Automobilmanager. Tüting ist Maschbauer aus dem Stall der Autouniversität Darmstadt. Sein offizieller Titel: Geschäftsführer der Chery Europe GmbH. 13 Berufsjahre hat er bei Ford verbracht, seit 2013 arbeitet er für das chinesische Unternehmen, zunächst in China, jetzt im Provisorium von Raunheim in direkter Verlängerung der Frankfurter Startbahnen.
Das hier im ersten Stock sei nur ein Provisorium, sagt uns Tüting. Sowie der Ausbau fertig sei, werde er in die dritte Etage ziehen. Rund 50 Mitarbeitern, in der Hauptsache Designer, sollen 2019 dort einziehen. Kevin Rice, der bei Mazda erfolgreich gewordene Designer, soll von hieraus das Design der Marke steuern – wenn auch nur digital. Will er ein Tonmodell sehen, muss das in China nach seinen Zeichnungen geformt werden. Die Besinnung auf Designer mit europäischen Wurzeln hat sich schon bei den Koreanern mit Peter Schreyer, Luc Donckerwolke und Thomas Bürkle bewährt. Der Weg zum Global Player und in die USA fällt offenbar leichter, wenn er über Deutschland und Europa führt.
Die Frage nach dem Grund, Raunheim als Standort zu wählen, wird damit schon zu einem Teil beantwortet. Es geht eben nicht nur um die nette Geste, dem Management aus China kurze Anfahrten zu ermöglichen. Frankfurt liegt zentral zu den nächsten Zielmärkten in Deutschland, Österreich, der Schweiz, sowie den Niederlanden und Norwegen. Außerdem sind die Weg zu den wichtigen Zulieferern kurz. Die Boschs, ZFs und Contis sind nicht weit. Und kein chinesischer Hersteller kommt ohne sie aus. Besonders gesucht sind unter ihnen die, die auch für einfache bis strategische Zusammenarbeit infrage kommen.
Als wieder ein Jumbojet über uns hinweg startet, sagt Tüting: „Wir agieren etwas leiser“ und meint damit, den Auftritt von Chery in Europa. Die Erinnerung an „Landwind“ und „Brilliance“ lebt nicht nur in den Archiven der Auto-Medien fort, sondern auch im Bewusstsein der Strategen der chinesischen Hersteller. Die üben sich in Geduld und setzen einen Schritt vor den anderen. Tüting kann sich nicht vorstellen, dass der Verkauf in Deutschland wesentlich vor 2021 starten kann. Der Mietvertag in Raunheim sei langfristig, betont Tüting, und verweist auf die riesigen Brachflächen am westlichen Rand des Industriegebiets. Die halte man in Reserve, sagt der Europachef. Und wir bekommen durch die riesige Fläche einen Eindruck davon, was Chery hier wohl noch alles bewegen will.
Den Erfolg in Europa soll die Marke Exeed bringen. Den Namen Chery will Tüting nur dann verwenden, wenn das markenrechtlich nicht anders möglich sein wird. Die Exeed-Modelle sollen die heute typischen chinesischen Produktmerkmale aufweisen: Sie sind das rollende Internet, das Smartphone auf vier Rädern, designorientiert, gut ausgestattet und elektrifiziert. Tüting nennt ihr Erscheinungsbild „international“.
Was darunter zu verstehen ist, zeigte Chery/Exeed im September auf der Internationalen Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt. Ein mittelgroßes SUV und ein aggressiv auftretendes Concept-Car. Auf der Messe sah man entsprechende Modelle der chinesischen Marke Qoros, die in Europa bereits einige Bekanntheit erlangt hat. Damals war Chery noch zu 50 Prozent am Qoros-Projekt beteiligt. Jetzt steht nur noch eine Minderheitenbeteiligung zu Buche, und Tüting lässt keinen Zweifel daran, dass Chery/Exeed einen eigenen Weg gehen werde. Er ist ja noch jung, die Chinesen sind geduldig und das Reservegelände in Raunheim groß. (ampnet/Sm)
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