Gerade hat die Marke die erste Dekade einer neuen Unternehmens-Ära vollendet. Vor genau zehn Jahren erschien der erste Rolls Royce auf der Bildfläche, der komplett unter der Ägide von BMW entstanden war. In den geheimnisumwitterten Pokerpartien zwischen den damaligen BMW- und VW-Chefs wurden die beiden englischen Nobelmarken Bentley und Rolls Royce, die seit den dreißiger Jahren in einem Unternehmen zusammen gefasst waren, getrennt. Die traditionelle Fertigungsstätte in Crewe blieb bei Bentley und ging damit an Volkswagen, Rolls Royce fand auf den Ländereien des autobegeisterten Earl of March in Goodwood eine neue Bleibe. Kurz nach Mitternacht wurde am 1. Januar 2003 das erste Phantom-Modell neuer Zeitrechnung an einen australischen Kunden ausgeliefert.
Zur Überraschung vieler handelte es sich nicht um einen aufgeblasenen Siebener-BMW, sondern um eine viertürige Limousine mit eigenem Charakter, die in Sachen Komfort und Qualität neue Maßstäbe setzte. Unterm Blech allerdings kam reichlich bewährte BMW-Technik zum Einsatz, zu allererst der für den 7er-BMW konstruierte Zwölfzylinder-Motor, der in England überarbeitet und auf 6,75 Liter aufgebohrt wird. Heute umfasst das Modellangebot außer dem 5,84 Meter langen Phantom II ein daraus abgeleitetes zweitüriges Coupé sowie ein Cabrio (Drophead Coupé). Dazu gesellte sich 2009 das etwas despektierlich „Baby-Phantom“ geheißene Modell „Ghost“, das immer noch 5,40 Meter lang ist.
Während der Phantom ein klassisches Chauffeurs-Fahrzeug ist, in dem die Fondgäste sich in handschuhweiches Leder kuscheln, die Zehen in lammwollene Hochflorteppiche versenken und edle Tropfen aus dem zwischen den Sitzen platzierten Champagner-Kühler genießen, ist das Drophead-Coupé eher ein Wagen für genussbereite Selbstfahrer. Entsprechend der weiland von Henry Royce gegebenen Standard-Antwort auf die Frage nach der Leistung seiner Fahrzeuge, hat der Lenker auch hier „ausreichend“ Pferdestärken zur Verfügung. Genau sind es 460. Mehr als ausreichend ist die zu beschleunigende Masse: 2,7 Tonnen wiegt der fahrfertige Freiluft-Rolls, mehr als ein Durchschnitts-SUV inklusive Passagieren.
Nicht allein solide Bauweise ist verantwortlich für einen derart gewichtigen Auftritt, auch Dutzende von Nebenaggregaten, Hilfs- und Stellmotoren hinterlassen ihre Spuren auf der Waage. Die hinten angeschlagenen Türen beispielsweise muss der müde Scheich nicht von Hand zuziehen, das wird elektrisch erledigt. Ebenso legendär wie die Marke selbst ist die Aussage, das lauteste Geräusch, das man während der Fahrt höre, sei das Ticken der Borduhr. Im Falle der Drophead-Testfahrt stimmte dies nicht – das Gebläse der Klimaanlage war's. Ein vermutetes Gurgeln im Tank unterblieb, obwohl 17,3 Liter je hundert Kilometer Strecke durch die Benzinleitungen rauschten.
Wenn Mylord sich durch die hinten angeschlagenen Türen in den Fond begeben hat, braucht er auch beim Ghost den Arm nicht auszustrecken, um den Wagenschlag zu schließen. Ein Druck aufs Knöpfen genügt. Die mit cremefarbener Lederhaut tapezierte Wellness-Oase schließt ihn hermetisch von störenden Umwelteinflüssen ab. Dank 570 PS aus zwölf doppelt aufgeladenen Zylindern und 780 Newtonmetern Drehmoment kann sie auch im Vergleich mit hoch motorisierten Zweisitzern mühelos mithalten. Aber anders als etwa bei der früheren Schwestermarke wird die technisch mögliche Höchstgeschwindigkeit bei Rolls Royce nicht ausgenutzt – auch beim Ghost greift bei 250 km/h der elektronische Riegel ein.
Nur beim kräftigen Tritt auf das Gaspedal entfaltet sich so etwas wie kerniger Motorsound, die butterweich schaltende Achtgang-Automatik gestaltet den Vortrieb so herrschaftlich dezent und geschmeidig, dass dringend geraten werden muss, den Tacho im Auge zu behalten. Der Blick auf die Tankanzeige ist dagegen nicht so drängend: 13,2 Liter Verbrauch auf dieser Testfahrt belegen, dass sich auch der Durst eines Zwölfenders zähmen lässt. (ampnet/afb)
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